Einer der beiden Fachleute, die die „Initiative Klimaneutrales Deutschland“ zu einer Online-Pressekonferenz eingeladen hat, ist Professor Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Mitglied sowohl von Expertenkommissionen der vorhergehenden wie der gegenwärtigen Bundesregierung und Hauptautor einer Stellungnahme zum Strommarktdesign vom Februar dieses Jahres. Zusammengefasst wird darin das Problem so beschrieben:
Zurzeit gibt es in Deutschland nur eine einzige Strompreiszone. Bei Starkwind ist der Marktpreis regelmäßig in Norddeutschland „zu hoch“ und in Süddeutschland „zu niedrig“. So niedrig, dass im Süden die Gaskraftwerke nicht hochgefahren werden – aber trotzdem viel Strom in die südlichen Nachbarländer exportiert wird. Das führt zu Ringflüssen von Nord- nach Süddeutschland: über die Niederlande, Belgien und Frankreich im Westen und über Polen und Tschechien im Osten. In diesen Ländern kann das Netz dadurch nicht im gewünschten Umfang für den eigenen Stromhandel genutzt werden.
Eine weitere Folge kann sein, dass die Netzbetreiber in Deutschland, um Überlastungen zu vermeiden, konventionelle oder erneuerbare Kraftwerke in Norddeutschland abregeln und teurere Marktkraftwerke oder Netzreserve-Kraftwerke in Süddeutschland hochfahren lassen. Eine solches nachträgliches Umdirigieren („Redispatch“) führt derzeit zu Systemkosten in einer Größenordnung von etwa vier Milliarden Euro pro Jahr, die – mit Ausnahme der energieintensiven Industrie – von den Verbrauchern über die Netzentgelte bezahlt werden müssen.
Mit einheitlicher Strompreiszone noch höhere Netzentgelte
„Und es wird erwartet, dass diese Kosten weiter steigen werden“, sagte Bernd Weber, Geschäftsführer von „Epico KlimaInnovation“, einem von der Konrad-Adenauer-Stiftung geförderten, gemeinnützigen Verein. Weber machte sich die Annahme der Übertragungsnetzbetreibers Amprion zu Eigen, dass sich die Netzentgeltkosten „bis zu verdreifachen könnten“. Dabei umfassten Netzentgelte schon jetzt 20 Prozent der Strompreise von Haushaltskunden.
Andreas Löschel findet, wir hätten „eigentlich einen gut funktionierenden Stromgroßhandelsmarkt“. Nur seien die Erfordernisse der Stromnetze in diesem Markt nicht gut abgebildet. In Zahlen drückt sich das nach Bernd Weber unter anderem so aus, dass 85 Prozent von dem, was im Stromnetz zugebaut werden muss – nämlich 12.200 Kilometer – „noch in den verschiedenen Planungs- und Genehmigungsverfahren stecken.“ Viel dürfte sich in den kommenden Jahren daran nicht ändern – „,wenn sie zum Beispiel an Suedlink denken, eine der großen Stromautobahnen, die eigentlich letztes Jahr schon fertig werden sollte, jetzt aber wahrscheinlich erst 2028 fertig werden wird.“
In der Fachwelt werden zwei Maßnahmen diskutiert, die über angemessene Preisbildung auch bei Starkwind sowohl kurzfristig Betriebsentscheidungen zum Kraftwerkseinsatz als auch mittel- und langfristig Entscheidungen zum Standort von Energieanlagen und zum Netzausbau sinnvoll anreizen könnten. Beide Maßnahmen würden eine Aufteilung der einheitlichen deutschen Strompreiszone bedeuten. Die EU hatte bereits im Oktober 2018 Österreich, das bis dahin noch zu dieser Zone gehört hatte, davon abtrennen lassen.
Aufteilung in zwei bis vier Preiszonen
Nun lässt die EU-Regulierungsagentur ACER eine weitere Aufteilung der verbliebenen Preiszone in zwei, drei oder vier Zonen von den deutschen Übertragungsnetzbetreibern prüfen. Das würde in Norddeutschland wohl eher zu niedrigeren und in Süddeutschland zu höheren Preisen führen – ein Anreiz für mehr Stromerzeugung in Süddeutschland und für weniger Exporte von dort in südliche Nachbarländer. „Problem gelöst“, könnte man sagen. Freilich wehren sich die Ministerpräsidenten von Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Saarland, Hessen und Nordrhein-Westfalen dagegen.
Winfried Kretschmann zum Beispiel hat sich im Mai „sehr deutlich gegen jede Aufteilung des Strommarktes in Deutschland in unterschiedliche Preiszonen“ ausgesprochen und kann dabei auf die Unterstützung seines Parteifreunds Robert Habeck bauen. Bernd Weber: „Ich glaube, dass auch weiter die Mehrheit der Akteure, die in Deutschland involviert sind, eigentlich die einheitliche Strompreiszone erhalten möchten.“ – Für eine Aufteilung sind wie zu erwarten die Ministerpräsidenten der norddeutschen Flächenländer Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
Um wieviel sich der mittlere Preis jeweils überhaupt ändern würde, darauf mag sich derzeit niemand festlegen. Andreas Löschel sagte dazu auf telefonische Nachfrage von EnBauSa, das sei „schwierig abzuschätzen, denn es hängt ganz stark von den Ausgestaltungen ab. (...) Ich glaube, die werden nicht so weit auseinanderliegen, die durchschnittlichen Preise.“ Zumal die Marktkräfte ausgleichend auf den Netzausbau und den Erneuerbaren-Ausbau wirken dürften.
Der Haupteffekt kommt aus kurzfristigen Spitzenpreisen
Der hauptsächliche Effekt werde nicht aus dem mittleren Preis, sondern aus kurzfristigen Spitzen kommen: „Das ist ein sehr sinnvolles Signal zum Beispiel für ein Gaskraftwerk mit Wasserstoffbetrieb, das dann über einige Stunden sehr hohe Preise erzielen kann, oder für einen Speicher, der dann sehr gewinnbringend gefahren werden kann.“
Noch stärker wäre die Wirkung, wenn der Preis nicht mehr für Zonen, sondern für jeden Strom-Einspeise- oder Entnahmepunkt einzeln ermittelt würde. Diese Punkte werden auch als „Knoten“ bezeichnet; solche Preise als „Knotenpreise“; und das System als „Nodal Pricing“. Angewandt wird es unter anderem in 18 US- Bundesstaaten. In Texas, das von der Größe her Deutschland entspricht, werden zum Beispiel Preise an rund 12.000 einzelnen Knoten ausgewiesen.
Knotenpreise als Alternative sind umstritten
Während sich ein Forschertrio um Professor Martin Bichler von der TU München vor kurzem in einem Zeitungsbeitrag dezidiert für Knotenpreise ausgesprochen hat, ist Löschel im Gespräch skeptisch: „Das Signal ist, wenn das sehr kleinteilig wird, unsicherer, unvorhersehbarer, kann sich auch schneller ändern. ... Da muss ja nur eine Leitung hingebaut werden. Dann ändert sich das auf einmal wieder. ... Wenn dann über solche Nodalpreissysteme die Auswirkungen so unklar zu beziffern sind, dann glaube ich, dass die Investitionsentscheidungen dadurch doch nicht so richtig getriggert werden, weil die Unsicherheiten so groß sind.“
In der Löschel-Stellungnahme werden weitere Vorbehalte gegen Knotenpreise ausgeführt: ein erhöhtes Risiko für Marktmachtmissbrauch durch die geringere Anzahl der Akteure; eine technisch sehr komplexe Umsetzung in stark vermaschten Netzen wie dem deutschen; eine schwere politische Durchsetzbarkeit wegen des Nachteils für Endkunden in Hochpreiszonen.
Während also die fachliche Diskussion noch im Gange ist, steht der Terminplan für die institutionellen Entscheidungsprozesse laut Bernd Weber ziemlich genau fest. Voraussichtlich im Frühjahr 2024 werden die deutschen Übertragungsnetzbetreiber der EU-Agentur ACER einen Bericht mit Vorschlägen für eine mögliche Aufteilung der Preiszone vorlegen. Bis 30. Juni 2025 kann die deutsche Bundesregierung entweder einer solchen Aufteilung zustimmen – was unwahrscheinlich sei – oder die anderen betroffenen EU-Mitgliedsstaaten davon überzeugen, die Aufteilung ebenfalls abzulehnen.
Überzeugen lassen würden sich diese wohl nur, wenn die Bundesregierung „eine volle Kostenübernahme, also auch der Kosten von den Nachbarstaaten, die durch die Ringflüsse beeinträchtigt werden“ anbieten würde. Würde lediglich die deutsche Regierung ihr Veto gegen eine Aufteilung einlegen, dann ginge die Entscheidungsbefugnis auf die EU-Kommission über, die ihrerseits wohl eine Aufteilung durchsetzen würde. Wegen des nötigen Vorlaufs sei allerdings, so zitiert die Löschel-Stellungnahme den Übertragungsnetzbetreiber Tennet, „mit einer Umsetzung nicht vor 2027 zu rechnen“.