Die selbstgesteckten Ziele sind ambitioniert: Bis zum Jahr 2030 will die 41.000-Einwohner-Stadt Nordhausen am Südrand des Harzes ihren Stromverbrauch komplett aus erneuerbaren Energien decken und ihren Wärmebedarf zu 30 Prozent. Damit will die für ihre Spirituosen bekannte Kreisstadt bundesweites Vorbild werden.
Die Voraussetzungen sind günstig. Denn die fachlichen Planungen für die Energiewende sind bereits abgeschlossen, wie Beate Meißner erklärt, die Sachgebietsleiterin für Stadtplanung und Stadtsanierung: Vor knapp fünf Jahren beschloss Nordhausen sein integriertes Klimaschutzkonzept. Es beschreibt das Szenario, mit dem der Ausstoß von Kohlenstoffdioxid (CO2) von 267.000 Tonnen im Jahr (Stand 2010) auf 74.000 Tonnen bis zum Jahr 2050 sinken soll und der Energieendverbrauch von 1038 Gigawattstunden (GWh) auf 653 GWh - berechnet auf der Grundlage aller Verbräuche der Nordhäuser Einwohner, etwa auch durch Urlaubsreisen.
IBA Thüringen hilft bei der Energiewende vor Ort
Helfen sollen der finanziell klammen Stadt die Beteiligung an der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen sowie die Förderung aus dem bundesweiten Wettbewerb Zukunftsstadt, für dessen zweite Runde sich die Kommune bewirbt. "Mit dem Wettbewerb haben wir die hervorragende Chance, Bürger und Akteure einzubeziehen", sagt Meißner. Denn die Ernergiewende kann nur mit allen Akteuren gemeinsam gelingen, ist man in Nordhausen überzeugt.
"Wir haben eine sehr gute Ausgangsposition", sagt Meißner, und meint vor allem das Fernwärmenetz aus DDR-Zeiten. 1994 wurde es von Braunkohle auf drei Gas-Blockheizkraftwerke umgestellt. Die erzeugen 40 Prozent des Nordhäuser Stroms. Jede zweite Wohnung ist an die Fernwärme angeschlossen. Rechnerisch wird bereits heute eines der drei Kraftwerke komplett mit Biomethan betrieben, das seit 2015 direkt vor Ort erzeugt wird - unter anderem aus Schlempe, einem Abfallprodukt der Alkoholdestillation, aus der Gülle von 86.000 Schweinen sowie aus Energiepflanzen wie Mais. Das Erneuerbare-Energien-Methan (EE-Methan) wird direkt ins Erdgasnetz eingespeist.
Ab 2050 soll nur noch Gas aus Erneuerbaren ins Netz
"Selbstverständlich ist es unser Ziel, von den fossilen Brennstoffen wegzukommen", sagt Meißner. Allein die vollständige Umstellung von Erdgas auf Biomethan würde in Nordhausen knapp 36.000 Tonnen CO2 jährlich einsparen. Ab 2030 soll der Stromüberschuss aus Wind- und Solarstrom dem Fernwärmenetz dienen, indem damit synthetisches EE-Methan erzeugt wird. Bis 2050 sollen nur noch EE-Gase durch die Rohre fließen.
Um dahin zu kommen, muss die Stadt ihre Energiewende gemeinsam mit ihrem Umland organisieren. "Man kann eine Stadt nicht nur mit ihrem Gebiet mit erneuerbaren Energien versorgen", sagt Professor Dagmar Everding, Expertin für energetisch-ökologischen Stadtumbau an der Hochschule Nordhausen. Das gilt nicht nur für Biomethan: "Ein sehr großer Windpark ist in der Entwicklung. Der muss entsprechende Abstände zur Wohnbebauung haben."
Die Hochschule ist als Wissenschaftspartner beteiligt. Everdings Studierende entwickelten bereits das "Solarkraftwerk Bahnhof": Durch Photovoltaikanlagen auf allen Dachflächen und Parkplätzen könnte sich das Bahnhofsareal weitgehend autark mit Strom versorgen. Nun sind die Akteure zu finden: Wer ist bereit zu investieren? Wer ist zu beteiligen?
Börse für Solarflächen entsteht
Diskutiert haben die Bürger dazu in Workshops verschiedene Möglichkeiten von Energiezusammenschlüssen. Zwei Genossenschaften aus dem Umland signalisierten Interesse, sich einzubringen. So gehört zu den 69 Einzelmaßnahmen, mit denen Nordhausen die Energiewende betreibt, auch eine Börse für solar nutzbare Flächen. Ein Solardachkataster soll dabei helfen, diese zu ermitteln.
Das Potenzial ist gewaltig: Bis zu 146 GWh solar erzeugter Strom pro Jahr wären laut dem Klimaschutzkonzept möglich. 2010 waren es rund 7,1 GWh. Das Kataster soll zudem mit der konkreten Umsetzung im Quartier verknüpft werden. So könnten die Anlagen dort, wo vormittags viel Strom benötigt wird, auch mit Ostausrichtung gebaut werden, verdeutlicht Everding. Es wären weniger Speicher nötig. Denn neben den Fragen zur Vernetzung von Stadt und Umland gehen die Forscher auch der Frage nach, wie sich die einzelnen Stadtquartiere entwickeln lassen. "Wir wollen untersuchen, wie man bei Sanierung und Umbau die Gebäude selbst zur Energieproduktion oder -speicherung nutzen kann", sagt Meißner.
Dazu könnten kybernetische Lösungen gehören, wie die Windtürme zur Gebäudekühlung in heißen Ländern. Wärmespeicher müssten nicht unbedingt selben im Haus untergebracht sein, sondern im Quartier, so Everding. Auch Betonfundamente könnten als Speicher dienen, indem man Röhrchen einlässt und mit Wasser füllt. Eis- oder chemische Speicher sollen ebenfalls erprobt werden, um Solarthermie in Kombination mit Wärmepumpen im Winter nutzbar zu machen. In der Altstadt könnten Aktivhäuser in Baulücken so gebaut werden, dass sie die Gesamtbilanz des Quartiers ausgleichen. Aber dafür müssen sich die Eigentümer einigen, um etwa den Strom aufzuteilen oder ein Nahwärmenetz zu bilden.
So treten neue Fragen auf: Wer betreibt die Anlage? Wie wird abgerechnet? Kann der Einzelne seinen Stromanbieter noch frei wählen, wenn Strom- und Wärmeerzeugung kombiniert werden? Weil die Nordhäuser Energiewende weniger an technischen als an solchen wirtschaftlichen Fragen hängt, sieht man in der breiten Beteiligung den entscheidenden Erfolgsfaktor. "Ich glaube, dass es in vielen Städten eine Bereitschaft der Bürger gibt, dass viele Städte aber nichts davon wissen", sagt Meißner. "Wir haben festgestellt: Wir sind viel weiter als befürchtet und die Bereitschaft ist sehr groß, etwas zu tun." von Daniel Völpel